Umwelt & Nachhaltigkeit

Doppelte Wesentlichkeit und DNSH-Kriterien

Die zwei wichtigsten ESG-Prinzipien im Überblick

6 Minuten27.07.2022

Im Zuge der europäischen Post-Corona-Recovery, des Green New Deals und der Sustainable Finance Initiativen werden Nachhaltigkeitsmanagement und Nachhaltigkeitsberichterstattung künftig stärker an den ESG-Kriterien (Environmental, Social and Corporate Governance) ausgerichtet sein. Zwei Prinzipien gewinnen beim ESG-Management immer mehr Bedeutung: das Prinzip der doppelten Wesentlichkeit und das Do-No-Signifikant-Harm-Prinzip. In diesem Artikel finden Sie wichtige Informationen und Beispiele dazu, wie Sie diese grundlegenden ESG-Prinzipien in Ihre Strategie integrieren können.

Doppelte Wesentlichkeit: Outside-in & Inside-Out

Das Prinzip der doppelten Wesentlichkeit wurde im Jahr 2019 erstmalig von der Europäischen Kommission im Zusammenhang mit der Nachhaltigkeitsberichterstattung formell beschrieben. Sie wies dabei auf die Notwendigkeit hin, ein vollständiges Bild der Auswirkungen eines Unternehmens zu erhalten.
Die doppelte Wesentlichkeit ist ein zentrales Element der von der Europäischen Kommission anschließend vorgeschlagenen Corporate Sustainability Reporting Directive (EU-CSRD) und stimmt mit dem Wesentlichkeitsansatz in den GRI-Standards überein.

Wesentlichkeits- bzw. Materialitätsanalysen sind im Nachhaltigkeitsmanagement nichts Neues. Sie stellen ein robustes und viel genutztes Instrument dar, um die Bedeutung und Relevanz von Nachhaltigkeitsthemen für ein Unternehmen zu bestimmen. Ein Unternehmen soll sich zunächst auf die Themen konzentrieren, die als wesentlich betrachtet werden. Doch was bedeutet „wesentlich“ oder „material“ genau? Hierzu gibt es unterschiedliche Auslegungen, die auch die Berichterstattungsstandards betreffen. 

Mit der kommenden Neuordnung der Nachhaltigkeitsberichterstattung (EU-CSRD-Richtlinie) müssen zwei Perspektiven im Sinne der doppelten Wesentlichkeit berücksichtigt werden:

Outside-In Perspektive

Die Outside-In-Perspektive betrachtet Auswirkungen von externen Themenstellungen auf das Unternehmen bzw. dessen finanzielle Ergebnisse, z. B. in Form von Erwartungen von Interessensgruppen oder durch technologische Veränderungen.

Beispiele für Auswirkungen im Sinne der Outside-In Perspektive

  • Anpassungskosten an den Klimawandel
  • Versicherungskosten
  • Rohstoffverfügbarkeit und -preise
  • Recycling- und Energiekosten
  • Demografische Entwicklung
  • Bevölkerungsstruktur
  • Wertwandel
  • Gleichstellung
  • Urbanisierung
  • Konflikte in Zulieferländern
  • Migration
  • Politische Regulierung

Inside-Out Perspektive

Die Inside-Out Perspektive betrachtet Auswirkungen („impact“) des Unternehmens auf Nachhaltigkeitsthemen, z. B. den Beitrag zum Klimawandel.

Beispiele für Auswirkungen im Sinne der Inside-Out Perspektive:

  • Treibhausgasemission
  • Wasserverbrauch
  • Luftverschmutzung
  • Energienutzung
  • Biologische Vielfalt
  • Arbeitsbedingungen
  • Arbeitnehmerrechte
  • Rechte der Gewerkschaften
  • Gesundheits- und Arbeitsschutz
  • Menschenrechte
  • Korruption
  • Bestechung

Doppelte Wesentlichkeit im Umweltmanagement

Für die ESG-Säule Environment bedeutet das Prinzip der doppelten Wesentlichkeit, die Auswirkungen der eigenen Tätigkeiten auf die Umwelt und die Auswirkungen von Umweltthemen auf das eigene Unternehmen zu berücksichtigen. Zu den Auswirkungen auf die Umwelt gehören beispielsweise die strategische Bedeutung der Energiewende bzgl. der Energiepreisentwicklung oder der Einfluss des Unternehmen, das als Lieferant eines OEM (Original Equipment Manufacturer), dieses im Rahmen seiner Scope-3-Aktivitäten zu Klimaschutzmaßnahmen auffordert. Zu Auswirkungen von Umweltthemen zählen potenzielle oder tatsächliche Auswirkungen von Luftimmissionen oder schadstoffbefrachteter Abwässer oder die Verschmutzung des Grundwassers durch Freisetzung von kontaminierten Schlämmen aus Absetzbecken.

ESG-Wesentlichkeitsmatrix

Die Umsetzung der Wesentlichkeitsanalyse erfolgt zumeist in Form von Matrizen bzw. Portfoliodiagrammen. Im ESG-Management könnte eine solche Wesentlichkeitsanalyse wie folgt aussehen und dabei die Auswirkungen entsprechend der Säulen Environment, Social, Governence farblich differenziert in Quadranten darstellen. Die jeweiligen Quadranten stellen Schnittpunkte der zwei Achsen Outside-In (X-Achse) und Inside-Out (Y-Achse) dar:

Warum ist eine Wesentlichkeitsanalyse von Nachhaltigkeitsaspekten so wichtig?

  • Die Berichterstattung über wesentliche Themen der nachhaltigen Entwicklung kann die finanzielle Leistung verbessern, das Engagement der Stakeholder erhöhen und für eine solidere Berichterstattung sorgen

  • Die Identifizierung von finanziell wesentlichen Themen ist unvollständig, wenn Unternehmen nicht zuerst Auswirkungen im Bereich Nachhaltigkeit bewerten.

  • Die Konzentration auf die Auswirkungen von Organisationen auf Mensch und den Planeten, anstatt nur auf finanzielle Wesentlichkeit, trägt zum Erreichen der Sustainable Development Goals der vereinten Nationen bei.

Das DNSH-Prinzip: Do-No-Significant-Harm

In der Vergangenheit ist es häufiger vorgekommen, dass die vermeintliche Lösung eines Nachhaltigkeitsproblems andere neue Probleme verursacht oder den Erfolg anderer Zielen beeinträchtigt hat. Das sogenannte „Tank-Teller-Dilemma“ illustriert diese Problematik beispielhaft: Die Nutzung von Biomasse als Biokraftstoff oder für biobasierte Materialien konkurriert mit dem Lebensmittelanbau und steht im Verdacht, das Welthungerproblem zu verstärken – es liegt also ein klassischer Zielkonflikt vor. 

Eine Möglichkeit zum Umgang mit nachhaltigkeitsrelevanten Zielkonflikten stellt das Prinzip der Vermeidung erheblicher Beeinträchtigungen (englisch: Do-No-Significant-Harm, abgekürzt DNSH) dar. DNSH bedeutet, dass Maßnahmen und Aktivitäten zu einem Nachhaltigkeitsziel beitragen müssen, ohne den anderen Nachhaltigkeitszielen zuwiderzulaufen. Für ein DNSH-Assessment können die folgenden Prüffragen verwendet werden:
 

Kontrollfragen zum DNSH Prinzip

6 Umweltziele und Kontrollfragen

  • Klimaschutz

    • Wird die Maßnahme voraussichtlich zu erheblichen Treibhausgas-Emissionen führen?
  • Anpassung an den Klimawandel

    • Werden durch die Maßnahme nachteilige Klimawandelfolgen verstärkt?
    • Wird davon die Maßnahme selbst oder Menschen, Natur und Vermögenswerte betroffen?
       
  • Nachhaltige Nutzung und Schutz von Wasser und Meeresressourcen

    • Ist davon auszugehen, dass durch die Maßnahme den guten Umweltzustand oder das gute ökologische Potenzial von Gewässern geschädigt wird?
  • Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft

    • Kann die Maßnahme zu einer deutlichen Zunahme von behandlungsbedürftigen Abfällen führen? (ausgenommen sind nicht recycelbare gefährliche Abfälle)
    • Kann es zu erheblichen Ineffizienzen bei der Nutzung von Ressourcen führen? (z. B. durch verkürzte Haltbarkeit oder Einsatzzeiten, geringere Demontage- und Reparaturfähigkeit oder Nachrüstbarkeit, Reduzierung der Kreislauffähigkeit, höhere Schadstoffgehalte)
    • Kann es im Hinblick auf die Kreislaufwirtschaft zu erheblichen und langfristigen Umweltschäden kommen?
       
  • Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung

    • Kann es zu einem erheblichen Anstieg der Schadstoffemissionen in Luft, Wasser oder Boden kommen oder anderen Umweltbeeinträchtigungen kommen? 
  • Schutz und Wiederherstellung der Biodiversität und der Ökosysteme

    • Kann der gute Zustand und die Widerstandsfähigkeit von Ökosystemen erheblich geschädigt werden? 
    • Kann der Erhaltungszustand der Lebensräume und Arten, geschädigt werden? 
       

Bei der Bewertung der Antworten auf die Kontrollfragen sollten Unternehmen jedes der sechs Umweltziele einzeln betrachten. Die Bewertung erfolgt dabei in zwei Schritten.

  1. Im ersten Schritt sind die Fragen für jedes Umweltziel zu beantworten. Lautet die Antwort auf eine der Fragen in der obigen Liste "Nein", ist eine kurze Begründung zu liefern, warum das Ziel keine substanzielle DNSH-Bewertung erfordert. Eine der folgenden Begründungen sollte dabei zutreffen:
    • Die Maßnahme hat keine oder nur geringe absehbare Auswirkungen auf das Umweltziel gemessen an den direkten und primären indirekten Auswirkungen der Maßnahme während ihres gesamten Lebenszyklus.
    • Die Maßnahme wird im Hinblick auf die Unterstützung eines Klimaschutz- oder Umweltziels mit einem Koeffizienten von 100 % gewichtet und gilt deshalb als mit den DNSH-Anforderungen für das betreffende Ziel vereinbar.
    • Die Maßnahme unterstützt in erheblichem Ausmaß ein Umweltziel im Sinne der Taxonomie-Verordnung und gilt deshalb als mit den DNSH-Anforderungen für das betreffende Ziel vereinbar.
  2. Wenn die Antwort auf eine dieser Fragen "Ja" lautet, werden die Unternehmen aufgefordert, zum zweiten Schritt überzugehen und eine substanzielle Analyse und Begründung dafür vorzulegen, dass ihre Maßnahmen und Aktionen zu einem oder mehreren Umweltzielen beitragen und nicht im Widerspruch zu anderen Zielen stehen. Wird keine Begründung vorgelegt, kann die Kommission davon ausgehen, dass die Maßnahme mit möglichen erheblichen Schäden verbunden ist.

 

Ausblick: Zwei ESG-Prinzipien für Ihr Nachhaltigkeitsmanagement

Der Hebel des Finanzsektors wird im Rahmen des Green Deals gezielt auf das Erreichen der Klimaziele der Europäischen Union angesetzt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass auch Ihr Unternehmen diese Hebelwirkung früher oder später spüren wird und einen Teil zur grünen Transformation beitragen muss. Nachhaltigkeit lässt sich allerdings nicht über Nacht in die Unternehmensstrategie einbinden und auch eine Optimierung der bestehenden Strategie hinsichtlich ESG und Taxonomie ist in der Regel ein langfristiges Vorhaben. Beginnen Sie frühzeitig! Mit der rechtzeitigen Integration der Prinzipien DNSH und Doppelte Wesentlichkeit stellen Sie die Weichen für Taxonomie-Compliance und ein umfassendes ESG-Reporting. Beides kann in Zukunft über Ihren Zugang zum Finanzmarkt entscheiden. Hinterfragen und optimieren Sie ihre Wirtschaftsaktivitäten anhand der beiden zentralen ESG-Prinzipien und identifizieren Sie Optimierungspotenziale für nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolg. Sie tragen dabei - ganz nebenbei - zum Erfolg der UN-Agenda für Nachhaltige Entwicklung und den Sustainable Development Goals (SDGs) bei.

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