Arbeitsschutz

Zeitgemäße Sicherheitskultur

Vom Regelwerk zur gelebten Verantwortung

6 Minuten07.11.2025

Der Wechsel von einer regelgeleiteten Sicherheitskultur hin zu einer Kultur der Eigenverantwortung muss bei Führungskräften anfangen. So setzen Sie die richtigen Impulse.

Wenn sich Arbeitsbedingungen und -umfelder ändern, wandeln sich auch die Voraussetzungen für Arbeitssicherheit. Nicht erst seit gestern fordern Globalisierung, Dynamiken in Lieferketten und steigender Zeitdruck Unternehmen heraus, ihr Verständnis und ihre Herangehensweisen für betriebliche Sicherheit kontinuierlich neu zu justieren.

Heute wissen wir: Sicherheitsmaßnahmen funktionieren am besten, wenn sie Teil der gelebten Kultur eines Unternehmens sind. Doch es ist herausfordernd, eine nachhaltige und effektive Sicherheitskultur zu etablieren. Erkenntnisse aus der Psychologie und Neurowissenschaft können dabei helfen.

Abkehr von starren Denkmustern

Die klassische Sicherheitslogik setzt auf Unterweisungen, Regeln und Kontrolle, fasst es Stephan Freundl von FREST Consulting zusammen. Mitarbeitende werden initial beim Eintreten in das Unternehmen und anschließend in regelmäßigen Abständen geschult. Die Benennung und Wiederholung von Verhaltensregeln soll Sicherheit garantieren – und Kontrollen stellen sicher, dass sich alle an die Regeln halten.

Technische Hilfsmittel sind dabei eine Unterstützung: Kameraaufzeichnungen halten Ereignisse fest, Alarmsignale sorgen für Aufmerksamkeit an Maschinen und Arbeitsmitteln, und neuartige, KI-gestützte Assistenten sollen Stör- und Unfälle vermeiden.

In dieser Logik, so Freundl, gilt der Mensch als Schwachstelle im System: Wenn es zu Sicherheitsvorfällen kommt, suchen wir den Grund vorrangig in individuellem Versagen: Hat jemand sich nicht an die Regeln gehalten? Wurde die Technik umgangen oder deaktiviert?

Diese Denkweise ist verlockend, aber sie übersieht, dass sich menschliche Fehler nicht einfach abstellen lassen und in bewussten Regelverstößen nicht selten auch begründete Motivationen liegen. Wie also kann eine zeitgemäße Sicherheitskultur aussehen, die den Faktor Mensch mit einbezieht, statt in starren Regeln und abstrakten Vorschriften zu verharren? 

Vom Regelwerk zur gelebten Kultur

Zuerst müssen wir verstehen, dass Regeln und Technik allein keine Sicherheit herstellen. Erst das Einbeziehen der Menschen und ihrer Alltagserfahrungen kann ein Bewusstsein dafür schaffen, wo Risiken liegen, warum bestimmte Schutzmaßnahmen sinnvoll sind und wie sie am besten in Prozessabläufe integriert werden. Jede und jeder sollte lernen, Risiken selbst zu erkennen und Verantwortung zu übernehmen. Führungskräften kommt hierbei eine Schlüsselrolle zu – als Manager ihrer Teams genauso wie als persönliches Vorbild.

Ein passender Ansatz ist die sogenannte „Just Culture“ (gerechte Sicherheitskultur). Statt Menschen für ihre Fehler zu verurteilen, fragt sie: Wie kam es zu einem Vorfall? Und wie können wir ihn in Zukunft vermeiden?

Das Ziel ist also nicht, nach Schuldigen zu suchen, sondern nach den Ursachen von Fehlern – und damit die Schwachstellen im System anzugehen.

Außerdem ist entscheidend, wie wir mit den Menschen im Unternehmen umgehen und ihnen die Kompetenzen für mehr Sicherheit vermitteln. Unterweisungen sind neu zu denken – in Formaten, die eingefahrene Bahnen verlassen und die Teilnehmenden stärker aktivieren.

Warum klassische Unterweisungen scheitern

Laut einer Untersuchung der BAuA (Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin) empfinden nur 18% der Mitarbeitenden die klassische Sicherheitsunterweisung als hilfreich. Warum ist das so?

Unterweisungen scheitern, wenn Mitarbeitende Zweck und Inhalte nicht verstehen oder davon gelangweilt sind. Sprachliche Barrieren werden oftmals unterschätzt. Aber selbst unabhängig von Verständnisproblemen haben klassische Unterweisungen drei fundamentale Schwachstellen:

  • Sie erhalten zu viele Informationen: Klassische Sicherheitsunterweisungen sind oft lang und enthalten viele Themen oder fachliche Details auf einmal. Dem steht gegenüber, dass Aufmerksamkeitsspannen von Menschen in der heutigen, beschleunigten Informationsflut weiter abgenommen haben. 
  • Sie sind lästige Routine: Wir wissen aus der Neurowissenschaft, dass das menschliche Gehirn Muster liebt und Bekanntes schnell abhakt oder ausblendet. Viele Menschen glauben bei Sicherheitsanweisungen, die präsentierten Informationen bereits zu kennen, und folgen den Inhalten nicht aktiv. 
  • Sie weisen Mitarbeitenden passive Rollen zu: Mitarbeitende finden sich vor allem als Lesende, Zuhörende und Zuschauende wieder. Feedback-Runden können scheitern, wenn Ängste bestehen, Kritik an Unterweisungsinhalten äußern zu dürfen oder zugeben zu müssen, dass Anweisungen nicht verstanden wurden. Manche Mitarbeitende befürchten Konsequenzen. 

Kompetenz statt Konformität

Eine Abkehr von Regelhörigkeit und frontal geführten Sicherheitsunterweisungen erfordert kreative neue Ideen in der Praxis. Der Sicherheitsexperte Sebastian Wagner von Enpal B.V. empfiehlt, Erkenntnisse aus der Neurowissenschaft einzubeziehen und die Möglichkeiten moderner Tools auszuschöpfen. So lassen sich Lernmechanismen erkennen und Lernerfolge verbessern. Ein paar Best-Practice-Tipps:

  • Kürzere, öfter stattfindende Lerneinheiten: Es empfiehlt sich, Informationen in kleinere Einheiten aufzuteilen und über „situatives Lernen“ besser in den Arbeitsalltag zu integrieren. Statt einer jährlichen Unterweisung sind z. B. wöchentliche Kurzunterweisungen oder andere sogenannte „Micro-Learnings“ denkbar. 
  • Neue Formate: Unbekanntes und Überraschendes erzeugt mehr Aufmerksamkeit als Routinen. Deswegen sollten Sicherheitsunterweisungen über die naheliegenden, altbekannten Formate hinausgehen. Möglichkeiten sind spielerische Ansätze, die sich selbst für scheinbar trockene Themen finden lassen („Edutainment“, „Gamification“), der Einsatz animierter Kurzvideos oder ein Perspektiv- und Rollenwechsel, wie z. B. in Workshops, in denen Mitarbeitende sich gegenseitig Schutzmaßnahmen erklären anstatt sie sich von der Sicherheitsfachkraft erklären zu lassen.
  • Dialog und Offenheit: Während negative Gefühle und Einstellungen unsere Lernmotivation hemmen, fördern Spaß und Neugier die Gedächtnisleistung. Mitarbeitende sollten keine Angst davor haben, offen mit Führungskräften sprechen zu können. Dies gelingt durch Nahbarkeit und wertschätzendes Verhalten, ehrliches, regelmäßiges Feedback und Investitionen in die gemeinsame (Arbeits-)Beziehung. 

Wichtig bei alledem: Führungs- und Sicherheitsfachkräfte müssen in einer Just Culture mit gutem Beispiel vorangehen. Sie sind nicht länger Sicherheits-Polizei, die Regelverstöße sanktioniert. Stattdessen kommunizieren sie auf Augenhöhe und helfen Teammitgliedern dabei, selbst Sicherheitskompetenzen zu entwickeln. 

Eine neue Sicherheitskultur

Für den Wechsel von einer regelbasierten zu einer integrativen Sicherheitskultur braucht es Mut, Ausdauer und Freude, betont Sebastian Wagner. Den Aufwand ist es wert: Nicht nur, weil es Motivation und Miteinander im Unternehmen fördert, sondern auch, weil das Risiko für schwere Unfälle in Unternehmen mit einer starken Sicherheitskultur sinkt – laut ILO (International Labour Organization) um bis zu 40%.

Fazit: Eine moderne Sicherheitskultur stellt den Menschen in den Vordergrund – allerdings nicht länger als Ursache von Fehlern, sondern als Treiber ihrer Lösung. Erst durch den Einbezug Vieler schaffen wir die Grundlage für echte Sicherheit am Arbeitsplatz. Unternehmen, die ihre Arbeitssicherheit nach diesen Prinzipien gestalten, investieren nicht nur in höhere Sicherheit, sondern auch in Zusammenhalt und Zukunftsfähigkeit. 


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