Arbeitsschutz, Digitalisierung

Digitalisierung im Arbeitsschutz

Arbeitsschutz 4.0: Worauf kommt es an und wie gelingt der Wandel?

6 Minuten05.10.2020

Industrie 4.0 lässt Menschen und Technologien enger zusammenrücken. Wir arbeiten globaler, flexibler, automatisierter. Doch arbeiten wir auch sicherer? Wenn es um Digitalisierung geht, steht der betriebliche Arbeitsschutz noch viel zu selten im Vordergrund. Dabei ist das Potential enorm: Gerade in Aufgabenfeldern, die das ganze Unternehmen betreffen, sind Daten das Lebenselixier für intelligente Unternehmen. Die stringente Vernetzung aller Beteiligten ist das Fundament für den unternehmerischen Erfolg von morgen. 

Bit für Bit verändert sich die Arbeitswelt

In der Arbeitswelt 4.0 befreien automatisierte Prozesse Mitarbeitende von zeitintensiven Vorgängen. Moderne Informationstechnologien fördern orts- und zeitflexibles Arbeiten. Webbasierte Applikationen sorgen für einen reibungslosen unternehmensübergreifenden Informationsaustausch in Echtzeit. Seit langem kommunizieren wir nicht nur miteinander, sondern auch mit Maschinen. Die Vernetzung von Daten erleichtert uns die Interpretation komplexer Zusammenhänge. Frühwarnsysteme, die auf künstlicher Intelligenz beruhen, unterstützen dabei, große Datenmengen zu analysieren und Risiken frühzeitig zu identifizieren. 

Doch die zunehmende Digitalisierung führt auch zu neuen Herausforderungen im Bereich Arbeitssicherheit. Das Initiativpaper „Neue Formen der Arbeit. Neue Formen der Prävention“ der DGUV fasst Chancen und Risiken in der Arbeitswelt 4.0 zusammen und zeigt erste Lösungsansätze auf.

Neue Technologien schaffen Vorsprung

Neue Technologien können bestehende Arbeitsformen verändern oder neue entstehen lassen. Ambiente Technologien sorgen dafür, dass Mitarbeitende zunehmend von intelligenten und vernetzten Geräten umgeben sind, die sich individuell an ihre Bedürfnisse anpassen. Sie reichen von Sensoren, die das Licht oder die Temperaturen in Büros regeln, bis hin zu intelligenten Schutzanzügen, die die Körpertemperatur und den Puls messen. So können Mitarbeitende rechtzeitig vor gefährlichen Situationen bewahrt werden. 

Virtualität lässt Arbeitsumgebungen entstehen, die nicht mehr real sind, sondern nur als computerbasierte Modelle existieren. 3D-Projektionen sorgen dafür, dass Arbeitsgegenstände im realen Raum oder die Arbeitsumgebung vollständig simuliert wird. Dadurch kann das Training von Mitarbeitenden unterstützt oder der Umgang mit gefährlichen Arbeitsmitteln geübt werden. 

Augmented Reality bedeutet übersetzt „erweiterte Realität” und ist durch eine computerunterstützte Wahrnehmung bzw. Darstellung gekennzeichnet, die die reale Welt um virtuelle Aspekte erweitert. Häufig werden hierfür Datenbrillen oder spezifische tragbare Bildschirme eingesetzt. Sie unterstützen Mitarbeitende bei der medizinischen Diagnose und Behandlung oder bei Wartungsarbeiten. 

In selbstorganisierten Produktionssystemen können Produktionsanlagenteile mittels drahtloser Datenübertragung und Anbindung an das Internet selbsttätig entscheiden, welche Rohstoffe sie gerade benötigen. Sie bestellen Materialen, die von autonomen Fahrzeugen geliefert werden. Bei diesem unter dem Stichwort Industrie 4.0 diskutierten Konzept sind Menschen im Produktionsprozess zwar noch größtenteils involviert, Beschäftigte sollen jedoch möglichst nur noch prozessbegleitend oder in kritischen Situationen tätig werden. 

Stellvertretende Mobilität, Fernsteuerung und virtuelle Kooperation werden durch die immer stärkere Nutzung von Kommunikations- und Informationstechnologien unterstützt. Diese Technologien helfen dabei, Arbeit über räumliche, zeitliche und organisatorische Grenzen hinweg zu verrichten. Auch Geräte oder Maschinen lassen sich so ortsunabhängig steuern.

Arbeitsschutz 4.0

Mitarbeitende werden zunehmend Teil eines integriert gesteuerten Systems, in dem sie zwar einen Teil ihrer Autonomie abgeben, gleichzeitig aber ausgeprägte Planungs-, Organisations- oder Koordinierungsfähigkeiten mitbringen müssen.  

Nicht nur Fachkräfte für Arbeitssicherheit sondern auch weitere Akteure im Unternehmen wie Führungskräfte oder betriebsärztliches Personal müssen deshalb mehr als zuvor das Arbeitssystem als Ganzes (Mensch, Organisation, Technik) im Blick behalten. Arbeitsschutzmaßnahmen sollten nicht nur auf bestimmte kritische Bereiche reduziert werden. Bei der Planung des Arbeitssystems müssen Leistungsvoraussetzungen von Mitarbeitenden genau betrachtet werden. Immer komplexere und virtuelle Arbeitssysteme lassen sich im Nachhinein häufig kaum noch – oder nur mit erheblichem Zusatzaufwand – verändern. Deshalb sollten Fachkräfte für Arbeitssicherheit bereits bei der Planung miteinbezogen werden und vorausschauend Maßnahmen ableiten.  

Hierzu gehört auch, physische und psychische Aspekte sowie technische Entwicklungen integrativ zu analysieren. Präventionsexperten sollten technische Entwicklungen von Anfang an begleiten. Generell sind bei allen Technologien vorbeugende Analysen zu erstellen, die die Auswirkungen von Fehlbedienungen und die Unfallgefährdung berücksichtigen. Stellen Sie sich insbesondere bei neuen Technologien Fragen wie: Können hierdurch neue Gefährdungen, wie visuelle Ablenkung oder das Überhören von Warnsignalen entstehen? Sind damit Gesundheitsrisiken verbunden? Welche Folgen kann der Dauereinsatz haben?

Insbesondere bei kommunikationsintensiven Tätigkeiten empfiehlt sich  

  1. ein Kommunikationsmanagement, das Informationen auf das Wesentliche reduziert und verständlich macht.  

  1. dafür zu sorgen, dass Mitarbeitende in Zeiten ständiger Erreichbarkeit Ruhepausen einhalten.  

  1. Qualifizierungsmaßnahmen anzustoßen, die Mitarbeitende befähigen, mit neuen Technologien angemessen umzugehen. 

 

Auswirkungen räumlicher und zeitlicher Flexibilisierung

Ob in Form von Teleheimarbeit, Remote Work oder virtueller Teamarbeit: Immer mehr Tätigkeiten können räumlich verteilt erbracht werden. Das standort- oder zeitzonenübergreifende Zusammenarbeiten gehört mittlerweile in vielen Unternehmen zum Alltag. Formen der Arbeitszeitflexibilisierung reichen von Arbeitszeitkonten über Gleitzeitangebote mit Zeiterfassung oder Vertrauensarbeitszeit ohne Zeiterfassung bis hin zur Rufbereitschaft. Diese Modelle ermöglichen es Beschäftigten, Arbeit und Privatleben besser miteinander zu vereinen. Mitarbeitende können immer häufiger selbst entscheiden, wie sie sich ihre Aufgaben einteilen.  

Bei hohem Arbeitsaufkommen kann das jedoch häufig dazu führen, dass Beschäftigte länger arbeiten und zu wenige Pausen machen. Neue digitale Technologien erhöhen zwar die Produktivität, doch gehen laut der Studie „Wissensarbeit im digitalen Wandel“ mit einem erhöhten Leistungsdruck (59%) und einer stärkeren Arbeitsbelastung (58%) einher. Die DGUV weist darauf hin, dass Arbeits- und Regenerationszeiten bei Rufbereitschaft nur schwer planbar sind. Die Arbeit in virtuellen Teams kann zu einer weitgehenden Isolation des Einzelnen führen. Echte Kooperation und Kommunikation lassen sich durch Informations- und Kommunikationstechnologien nur bedingt kompensieren.

Ohne arbeitsvertragliche Regelungen sind Mitarbeitende nicht verpflichtet, während ihrer Freizeit erreichbar zu sein. Wenn Beschäftigte mobil arbeiten, sollten Regelungen zur Nutzung von Endgeräten und zur Erreichbarkeit getroffen werden. Erholungsphasen und tatsächliches Abschalten sollen Überlastungen verhindern. Deshalb sollten für Beschäftigte in Rufbereitschaft die gleichen Pausenregelungen gelten, wie für die Kernbelegschaft im Büro. Steuerungssysteme dürfen nicht zu einer permanenten Überwachung von Mitarbeitenden führen. Die Personalauswahl und -entwicklung ist an die Anforderungen der jeweiligen Tätigkeiten individuell anzupassen.  

Beschäftigte sollten mit Qualifizierungs- und Präventionsmaßnahmen bei Tätigkeiten, die eine hohe Flexibilisierung verlangen, entsprechend unterstützt werden. So müssen zum Beispiel Sales-Mitarbeitende im Außendienst vor zu langen Arbeitszeiten und nicht ausreichenden Pausen geschützt werden, während bei der Teleheimarbeit u.a. die mögliche soziale Isolation in den Vordergrund gestellt werden sollte. 

 

Expertenstatements: Digitalisierung als Chance und Herausforderung

Mit der fortschreitenden Digitalisierung und dem Entstehen digitaler Unterstützungssysteme bekommt der Arbeitsschutz von morgen nicht nur eine neue Dimension, sondern eröffnet auch gänzlich neue Möglichkeiten. Im Interview erklärt Prof. Dr. Volker Nürnberg von der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft BDO, worauf es dabei ankommt.

Dr. Michael Neupert ist Partner in der Anwaltskanzlei Kümmerlein in Essen. Wir haben ihn gefragt, wie sich neue technologische Entwicklungen auf die Arbeitsprozesse und die Sicherheit auswirken. Im Video erläutert Dr. Neupert, welche rechtlichen Herausforderungen sich aus der steigenden Automatisierung und der Verbreitung von künstlicher Intelligenz für den Arbeitsschutz ergeben. 

Digitales Unterstützung für HSEQ-Manager und Fachkräften für Arbeitssicherheit

Die im DGUV-Initiativpapier, der Hays-Studie und in den Interviews skizzierten Punkte machen einige durch die Digitalisierung geprägten Veränderungen für Mitarbeitende deutlich. Doch auch vor der strategischen und operativen Arbeit von HSEQ-Managern und Fachkräften für Arbeitssicherheit macht die Digitalisierung keinen Halt. Klar ist: Nur wer datenbasierte Entscheidungen trifft, kann Mitarbeitende in der Arbeitswelt 4.0 schützen und langfristig wettbewerbsfähig bleiben. 

Die meisten größeren Unternehmen haben deshalb bereits digitale Lösungen in ihr HSEQ-System integriert. Ein Großteil davon verfügt über HSEQ-Softwarelösungen, mit denen behelfsmäßige Insellösungen, Listenchaos und endlose Tabellen der Vergangenheit angehören. Ob Dokumentieren, Organisieren oder Auswerten: Mit einer integrierten digitalen Lösung schaffen Verantwortliche eine zentrale Anlaufstelle für alle Aufgaben und benötigen weniger Zeit für administrative Tätigkeiten. Informationen oder Dokumente können sie zentral für mehrere Standorte bereitstellen. Kollegen und Externe werden unkompliziert involviert und die Zusammenarbeit sowie der Informationsaustausch werden verbessert. Mobile Lösungen wie Apps sorgen dafür, dass Anwenderinnen und Anwender, Mitarbeitende, Fremdfirmen und andere Stakeholder auf dem kürzesten Weg aktiv mit einbeziehen können. 

Obwohl sich mittelständische Unternehmen der Produktivitätssteigerung durch Digitalisierung bewusst sind, haben sie sich in der Vergangenheit häufig noch überwiegend auf ihr Kerngeschäft konzentriert. Doch auch hier beginnt in den letzten Jahren zunehmend die Umstellung auf HSEQ-Softwarelösungen, die bei der Erstellung von Gefährdungsbeurteilungen, Online-Unterweisungen oder dem Gefahrstoffmanagement unterstützen. Dadurch können Daten einfacher verknüpft, sämtliche Akteure verbunden und Prozesse strukturiert und nachvollziehbar gestaltet werden. 

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