Arbeitsschutz

Die Unfallpyramide im Arbeitsschutz

So nutzen Sie das statistische Instrument zur Auswertung und Verbesserung Ihrer Unfallkennzahlen

7 Minuten 21.09.2021

Welche Bedeutung haben Meldungen von Beinaheunfällen (Near-Miss) im Arbeitsschutz? Für den Safety Management Trend Reports 2021 wurden über 600 Europäerinnen und Europäer, die tagtäglich für den Arbeits- und Gesundheitsschutz im Einsatz sind, befragt – 55% von ihnen verstehen Beinaheunfälle als integralen Bestandteil ihres Kennzahlen-Sets. Warum ist die Auseinandersetzung mit Beinaheunfällen so wichtig?  Das verdeutlicht eine  Unfallpyramide, die die Schwere und Häufigkeit von Unfällen zueinander ins Verhältnis setzt. Auch unter dem Begriff Sicherheitspyramide bekannt, visualisiert sie Zusammenhänge und Normalverteilungen zwischen fatalen bzw. schweren Unfällen, leichten Unfällen und Beinaheunfällen. Sie zeigt eindrucksvoll, wie wichtig ein ganzheitlicher Ansatz im Incident Management ist. Warum? Die Form der Pyramide ist kein Zufall: Ein schwerer Unfall ist in der Regel nur die Spitze eines Eisbergs. Durch einen Fokus auf das große Ganze dahinter, also auf Beinaheunfälle und unsicheres Verhalten, sind tiefgreifende Optimierungsmöglichkeiten im Arbeitsschutz möglich. Welche Unfallpyramiden es gibt, wie Sie Ihre Unfallkennzahlen damit auswerten und neue Ziele für besseren Arbeitsschutz definieren, erfahren Sie in diesem Artikel.

Heinrichs Gesetz und die erste Unfallpyramide

Um zu verstehen, wie die Unfallpyramide funktioniert und was sie zeigt, ist es sinnvoll, ihre Entstehung zu betrachten. Herbert W. Heinrich untersuchte in den 1930er Jahren auf empirischer Basis die Arbeitssicherheit in der amerikanischen Industrie. Er stellte bei der Analyse von 550.000 Unfällen ein nahezu konstantes Verhältnis von schweren, geringen und Beinaheunfällen fest: Auf einen schweren Unfall kommen dabei 29 geringe und 300 Beinaheunfälle. Diese “1-29-300”-Relation ging als Heinrichs Gesetz (Heinrich’s Law) in die Literatur ein und lässt sich als Pyramide darstellen, in der das Verhältnis der unterschiedlichen Vorfälle zueinander verdeutlicht wird.

Weiterentwicklungen für moderne Arbeitssicherheit

Arbeitsschutz hat sich in den letzten 90 Jahren grundlegend weiterentwickelt und damit auch die Unfallpyramide. Eine der bekanntesten Ergänzungen stammt von Frank E. Bird, der die Pyramide um eine vierte Ebene ergänzte. Er unterschied dabei tödliche Unfälle von Unfällen mit Arbeitszeitausfall, um eine differenziertere Sicht auf die Schwere der Unfälle an der Spitze zu erhalten.

Im Auftrag des Unternehmens ConocoPhillips wurde 2003 eine weitere Unfallpyramide entwickelt, die unsicheres Verhalten als zusätzliche Ebene an der Basis der Pyramide ergänzte.

Die praktische Anwendung der Unfallpyramide

Eindrucksvoll zeigen alle drei Pyramiden, dass die Reduzierung von leichten Unfällen und Beinaheunfällen direkten Einfluss auf die Anzahl der schweren Unfälle hat. Die Wahrscheinlichkeiten tödlicher oder schwerer Unfälle sinken, wenn aus den Zahlen der unteren Ebenen Maßnahmen für besseren Arbeitsschutz abgeleitet werden. Damit wird auch deutlich, wie wichtig eine aktive Meldekultur (Fehlerkultur) ist. Eine geringe Zahl an gemeldeten Beinaheunfällen ist nicht gleichzusetzen mit wenig Vorkommnissen. Letztere werden, wenn man der statistischen Wahrscheinlichkeit der Pyramide berücksichtigt, höchstwahrscheinlich oft einfach nicht gemeldet.

Wenn Sie sich für ein Set an Kennzahlen im Incidentmanagement entscheiden, sollten Sie neben schweren Unfällen an der Spitze der Pyramide auch das Verhältnis von Beinaheunfällen und Unfällen in Ihrem Unternehmen betrachten. Inwieweit entspricht es der Unfallpyramide und was lässt sich daraus schlussfolgern? Je “flacher” die Pyramide ist, desto besser. Denn daraus resultiert ein möglichst hoher Anteil an riskantem Verhalten oder Beinaheunfällen gegenüber schweren oder fatalen Unfällen. Das spiegelt dann nicht nur möglichst sichere Arbeitsprozesse wider, sondern auch eine positive Unternehmenskultur.

Arbeitsunfälle neu betrachten

Die Unfallpyramide verdeutlicht, dass die Häufigkeit von Unfällen und problematischen Situationen als Messkonzept für Sicherheit zu kurz gegriffen ist. Lernen Sie neue Konzepte kennen und erfahren Sie, wie Sicherheitskultur entsteht, wenn Sie traditionellen Arbeitsschutz mit folgenden  modernen Ansätze ergänzen:

  • Behavior Based Safety: So führen Teamwork, Verhaltensanalyse und positive Verstärkung zu sicherem Verhalten

  • Safety II: Auf einen Unfall kommen 9.999 sichere Ereignisse. Erweitern Sie Ihren Blickwinkel und maximieren Sie Sicherheit, in dem Sie verstehen und fördern, was gut läuft.

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Praktische Tipps für mehr gemeldete Beinaheunfälle

Die Unfallpyramide verdeutlicht, dass Verantwortliche für Arbeitsschutz auf eine hohe Anzahl von gemeldeten Beinaheunfällen angewiesen sind. In einer LinkedIn-Umfrage geben allerdings 56% der Befragten an, dass es „sehr herausfordernd“ sei, Mitarbeitende zu motivieren, solche Meldungen abzugeben. Wie also stellen Sie sich dieser Herausforderung und erhalten mehr Daten zu Beinaheunfällen?

Machen Sie die Berichterstattung so einfach wie möglich. Senken Sie die Hürde für Meldung mit einer reibungslosen Technologie, die keinen großen Schulungsaufwand erfordert. Konzentrieren Sie sich stattdessen darauf, die Mitarbeiter zu motivieren.

Setzen Sie dafür persönliche Anreize, aber machen Sie auch deutlich, dass mehr Beinaheunfall-Meldungen ein Ziel ist, das nur gemeinsam erreichen werden kann. Das wird einen gewissen Druck auf eher passive Mitarbeitende ausüben. Führen Sie Auszeichnungen für Mitarbeitende ein, die besonders aktiv Beobachtungen melden. Kommunizieren Sie über viele verschiedene Kanäle wie z. B. E-Mail, Ihre HSEQ-Software, Schwarze Bretter, Intranet und die sozialen Netzwerke Ihres Unternehmens. Wiederholen Sie Kommunikation beständig und setzen Sie sie auf die Tagesordnung einiger Sitzungen.

Um Ihre Erfolge im Reporting von Beinaheunfällen zu messen, empfehlen sich positive KPIs eher als negative. Beginnen Sie beispielsweise mit der Gesamtzahl der Beinaheunfall-Meldungen pro Person und Jahr. Ein realistisches Ziel für den Anfang könnte bei etwa 1-10 Meldungen pro Person und Jahr liegen, je nach Ihrer derzeitigen Sicherheitskultur.

Wenn Ihre Initiative anläuft und Sie eine Vielzahl von Meldungen erhalten, sollten Sie darauf vorbereitet sein, schnell zu reagieren. Es müssen nicht Sie persönlich sein, der das Feedback gibt, aber stellen Sie sicher, dass Feedback gegeben wird. Am einfachsten ist es für Sie, wenn Sie eine HSEQ-Software einsetzen, die nicht nur den Feedbackprozess, sondern auch die Nachbereitung der Aufgaben automatisiert. Wenn Sie Ihre Ziele gemeinsam erreicht haben, sollten Sie auch dies entsprechend kommunizieren. Vergessen Sie abschließend nicht, die Messlatte höher zu legen und sich für das nächste Jahr anspruchsvollere Ziele zu setzen. Jede Ziellinie ist der Start eines neuen Rennens.

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