Arbeitsschutz

Wie Fehlerkultur und Feedback zu mehr Arbeitssicherheit führen

Beschäftigte befähigen, motivieren und in den Arbeitsschutz involvieren

13 Minuten17.12.2020

Wussten Sie, dass die Anzahl der Fehlermeldungen ein wichtiges Kriterium für Erfolg ist? Je mehr Fehler gemeldet werden, desto erfolgreicher ist ein Team.  

Davon ist Amy Edmondson, Novartis-Professorin für Leadership an der Harvard Business School, überzeugt. Sie hat dieses Phänomen beschrieben. Edmondson fand heraus, warum Menschen an manchen Arbeitsplätzen weniger Probleme damit haben, Fehler einzugestehen als an andere. Sie spricht in diesem Zusammenhang vom Erfolgsfaktor „psychologische Sicherheit“ bzw. der „angstfreien Organisation“. 

Was meint psychologische Sicherheit? Klar ist: Das Eingestehen von Fehlern stellt ein zwischenmenschliches Risiko dar, das Menschen aus Angst vor negativen Konsequenzen nur ungern eingehen. Wer einen Fehler zugibt, macht sich verletzlich und angreifbar. Daher neigen viele Menschen dazu, einen Fehler oder einen Beinahe-Unfall unter den Tisch fallen zu lassen. Unternehmen sollten daher die notwendige Sicherheit bieten, die garantiert, dass Mitarbeiter Fehler melden können, ohne dafür negative Konsequenzen erwarten zu müssen, wie z. B. Bloßstellung, Erniedrigung, Ausschluss oder Bevormundung. Der mutige Schritt sollte bestenfalls Anerkennung finden und einen gemeinsamen Verbesserungsprozess anstoßen.

  • „Jedes Mal, wenn Sie eine aufrichtige Frage stellen – eine Frage, bei der Sie wirklich auf eine Antwort hoffen – und dann lange genug innehalten und zuhören, haben Sie das Sicherheitsgefühl ein bisschen zum Positiven beeinflusst.“ - Amy Edmondson

Psychologische Sicherheit im Arbeitsschutz

Was bedeutet es für den Arbeitsschutz, wenn Mitarbeiter das zwischenmenschliche Risiko nicht eingehen wollen und ihre Fehler für sich behalten? Ein Mangel an psychologischer Sicherheit kann verschiedene Folgen haben, z. B.: 

  • Der menschliche Beitrag an Unfällen wird nicht hinreichend in der Unfallursache berücksichtigt. Dadurch können auch keine Maßnahmen ergriffen werden, durch die Mitarbeiter in einer ähnlichen Situation in Zukunft kompetenter handeln. 

  • Beinahe-Unfälle, die eine menschliche Komponente tragen, werden nicht gemeldet. Die Situation, die zu einem nicht untersuchten Beinahe-Unfall geführt hat, wiederholt sich in ähnlicher Form und wird zu einem richtigen Unfall. Das bestätigt auch die Unfallpyramide nach DuPont, die besagt, dass aus etwa 30.000 Beinahe-Unfällen ein tödlicher Unfall resultiert.  

  • Angst vor Fehlern erzeugt oft inneren Druck, Fehler um jeden Preis zu vermeiden. Dieser Druck kann eine psychische Belastung darstellen, die Krankheiten oder Unfälle zur Folge hat. 

Was also können Sie tun, um Ihr Unternehmen zu einer angstfreien Organisation zu machen? Wie kann Ihre Organisation im Bereich Arbeitsschutz psychologische Sicherheit gewährleisten? Wie können Sie dazu beitragen, dass Mitarbeiter Beinahe-Unfälle und andere Dinge melden? Durch eine positive Fehler- und Feedbackkultur. 

Fehlerkultur heißt: Sprechen statt Schweigen

Für Sie als Arbeitsschutzverantwortlichen ist es wichtig, ein transparentes Fehlermanagement zu implementieren, das Arbeitsunfälle oder Beinahe-Unfälle systematisch dokumentiert. Dafür sollten Sie ein vertrauensvolles Umfeld schaffen, in dem Fehler und potenzielle Gefährdungen proaktiv von Beschäftigten gemeldet und konstruktiv behandelt werden. Die Herausforderung liegt nicht darin, neue Prozesse und Regelungen zu verkünden, sondern vielmehr, Mitarbeiter zu überzeugen und mitzunehmen. Das ist nicht einfach, denn Fehler werden oft als persönliches Scheitern verstanden. Am besten funktioniert dies mit anonymen Meldesystemen, bei denen jeder ohne Angabe seines Namens unsichere Situationen, Handlungen und auch Beinahe-Unfälle melden kann. Entscheidend ist schließlich nicht, wer den Fehler gemacht oder gesehen hat, sondern dass er gemeldet, erfasst, analysiert und in Zukunft verhindert wird. 

Zusätzlich kann es helfen, selbst Fehler einzugestehen und die Kollegen zu bitten, darauf hinzuweisen, wenn man etwas besser machen könnte. Gehen Sie mit gutem Beispiel voran, denken Sie an die Macht der Vorbildfunktion. Nur wer sich selbst Fehler eingesteht, kann dies auch von Mitarbeitern erwarten. 

Ihr erstes Ziel sollte es also sein, ein gedankliches Fundament für die Fehlerkultur in Ihrem Unternehmen zu etablieren. Sensibilisieren Sie Ihre Kollegen und Kolleginnen dafür, dass das offene Sprechen über Fehler ein wichtiger Erfolgsfaktor für das Unternehmen ist. Mitarbeiter müssen lernen, Fehler zu kommunizieren und eine Erkenntnis für sich und andere zu generieren. Eine veränderte Grundhaltung ist ein erster Schritt, aber sie muss auch mit konkreten Maßnahmen untermauert werden. Folgende Punkte helfen Ihnen, eine konstruktive Fehlerkultur zu etablieren:

  • HSE-Software befähigt Mitarbeiter oder externe Stakeholder, ihre Beobachtungen mithilfe einfacher Formulare direkt am Einsatzort (durch Apps, Terminals oder am Desktop) einzugeben. | © iStock: Halfpoint

1. Beschäftigte befähigen und involvieren

Ermöglichen Sie eine neutrale Fehlerkommunikation, indem Sie Mitarbeiter dazu befähigen, Arbeitsunfälle, unsichere Handlungen oder Beinaheunfälle zu melden - auch anonym. Dafür ist es wichtig, dass Sie die Schwelle der Berichterstattung senken, indem Sie in der Nähe des Arbeitsplatzes Dokumentationsmöglichkeiten schnell und einfach bereitstellen, z. B. in Form einer mobilen App für Smartphones und Tablets oder als Terminal in der Produktionshalle. Am besten sollten die Mitarbeiter die Meldungen direkt in die Arbeitsschutzsoftware eintragen können, um Schutzmaßnahmen systematisch einzuleiten.

2. Mitmachen belohnen

Arbeitsschutz wird leider von vielen Mitarbeitenden oft als etwas eher Lästiges und Negatives gesehen. Drehen Sie diese Perspektive um und denken Sie über ein Prämiensystem nach, das Beschäftigte motiviert. Belohnen Sie eifrige Kollegen mit Incentives, z. B. Erlebnisgutscheinen oder zusätzlichem Urlaubsgeld. Oder Sie initiieren einen Wettbewerb: Das Team mit den meisten nutzbringenden Meldungen erhält einen Zuschuss für die Teamkasse, z. B. für die nächste Weihnachtsfeier. Wenn aus den Fehlern neue Ideen und bessere Prozesse entstehen, können Sie die guten Beispiele präsentieren und signalisieren, dass es sich lohnt, mitzumachen. Wichtig ist, dass Mitarbeitende im richtigen Umgang mit Fehlern einen Vorteil für sich selbst sehen. So gewinnen Sie Ihre Kollegen und Kolleginnen für bessere Arbeitssicherheit.

3. Raum für Feedback und Lösungsfindung einrichten

Schaffen Sie geschützte Räume und Formate, um eine gemeinsame und konstruktive Fehleranalyse zu ermöglichen. Mitarbeiter sollen lernen, über Fehler zu sprechen. In sogenannten “Fuck-up-Meetings” oder "Failure Fridays" können sich Beschäftigte Zeit nehmen, um Fehler im Team offen zu besprechen und gemeinsam eine Lösung zu finden. So sensibilisieren Sie Mitarbeiter, aus Fehlern zu lernen.  
Eine Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young belegt, dass Beschäftigte am ehesten über Fehler sprechen, wenn sie mit gleichgestellten Mitarbeitenden aus ihrem Team sprechen. Weniger offen sind sie, sobald sie sich vor Vorgesetzten oder hierarchisch Untergebenen offenbaren müssen. Bedenken Sie dieses kleine, aber entscheidende Detail bei der Planung Ihrer Maßnahmen.

4. Coachen und sensibilisieren

Der Aufbau einer funktionierenden Fehler- und Feedbackkultur ist ein Veränderungsprozess, der nicht von selbst passiert. Stetiges und systematisches Erklären und Sensibilisieren sind für den Erfolg der Maßnahmen wichtig. Deswegen sollten Sie jeden Mitarbeiter involvieren, Workshops organisieren oder, wenn möglich, Einzelgespräche führen. Bewegen Sie sie zu einem konstruktiven Umgang mit Fehlern, insbesondere gegenüber Kollegen oder Untergebenen. Zeigen Sie, dass persönliche Schuldzuweisungen unproduktiv sind und betonen Sie eindringlich, dass Fehler kein Versagen des Einzelnen, sondern oftmals das Zusammenwirken unterschiedlicher Faktoren sind. Gehen Sie mit gutem Beispiel voran, indem Sie statt zu fragen: “Wer war das?”, lieber lösungsorientiert fragen: “Was können wir in der Zukunft besser machen? Wie können wir diese Situation (oder eine ähnliche) so gestalten, dass sie uns sicher und produktiv arbeiten lässt?”. Den Führungskräften kommt hierbei eine zentrale Rolle zu, denn sie sind Vorbilder und sollten sich entsprechend verhalten.

Schlüsselfaktor für mehr Arbeitssicherheit: die Führungskräfte

Um eine offene und vertrauensvolle Fehlerkommunikation zu implementieren, ist das Verhalten von Vorgesetzten im Unternehmen existenziell. Sprechen Sie daher zunächst mit Führungskräften. Erklären Sie Ihr Anliegen und gehen Sie auf die Vorteile für ihre Teams und für sie selbst ein. Zeigen Sie auf, dass eine gelebte Fehlerkultur zu weniger Krankheitstagen, höherer Produktivität, mehr Innovation und mehr Zufriedenheit führt.  

Am nachhaltigsten sind Veränderungen, auch die der Fehler- und Feedbackkultur, wenn alle im Unternehmen den Kern verstanden und verinnerlicht haben. Deswegen empfiehlt es sich, das Thema immer wieder positiv auf die Agenda zu setzen.

Überzeugen können Sie mit folgenden Argumenten, ohne dabei besserwisserisch aufzutreten: 

  • Gehen Sie mit bestem Beispiel voran, indem Sie eigene Fehler eingestehen 

  • Ermutigen Sie Führungskräfte, ebenfalls eigene Fehler einzugestehen, selbstkritisch zu sein und Mitarbeitenden offen und auf Augenhöhe entgegenzutreten.  

  • Machen Sie ihnen klar, dass sie Vorbilder für Mitarbeiter sind. 

  • Betonen Sie den Teamgedanken: Vermitteln Sie, dass Führungskräfte Verantwortung für die Fehlerkultur im Team haben.  

  • Bieten Sie Unterstützung an.

  • Sensibilisieren Sie sie dafür, dass Mitarbeitende gute Arbeit machen, wenn sie keine Angst haben müssen, Fehler zu machen. Denn Angst verhindert Innovation und den Lernprozess.

Wir alle wissen: Niemand ist perfekt. Menschen wachsen an ihren Erfahrungen und besonders an ihren Fehlern. Doch gerade hierzulande, im Land der Ingenieure, fällt es vielen noch immer schwer, mit Fehlern konstruktiv und verständnisvoll umzugehen. Der Soziologe Heinz Bude beschreibt die zwischen 1970 und 1980 geborenen Deutschen sogar als „Generation Null Fehler“. Umso wichtiger ist ein strukturierter und nachhaltiger Veränderungsprozess, der an die Menschen und die bestehende Unternehmenskultur in Ihrem Unternehmen angepasst ist.

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