Arbeitsschutz

Safety II und die irreführende Debatte über richtig oder falsch

Eine Frage der Definition? Von Safety I zu Safety II

8 Minuten08.02.2021

von Timo Kronlöf

Jedes Jahr bitten meine Kollegen und ich einige der großen Vordenker im Arbeitsschutz, uns fünf Fragen zu den aktuellen Entwicklungen ihres Fachbereichs zu beantworten. Das Ergebnis wird anschließend im Safety Management Trend Report veröffentlicht. Natürlich ist mir dabei klar, dass einige der Adressaten keine Zeit oder andere Gründe haben, meiner Bitte nachzukommen. Ich hätte jedoch nie damit gerechnet, dass man mir aus folgendem Grund absagt:

"Alle fünf Fragen beziehen sich auf "Arbeitsschutz", machen sich aber nicht die Mühe zu erklären, was dies eigentlich ist. Es wird selbstverständlich angenommen, dass der Begriff sich auf das gemeinsame Verständnis von Sicherheit als eine Bedingung bezieht, bei der so wenig wie möglich schief geht. Dies zu erreichen, bzw. darauf hinzuarbeiten, ist folglich Sinn und Zweck von Arbeitsschutz. Optimalerweise soll dabei der Idealzustand von null Unfällen/Zwischenfällen/Verlusten erreicht werden. Diese Interpretation entspricht aber dem Ansatz von Safety I". 

Diese Nachricht sendete mir Erik Hollnagel, ein anerkannter Professor, der sich als Experte für Resilience Engineering, Systemsicherheit und intelligente Mensch-Maschine-Systeme einen Namen gemacht hat. Seine Bücher und Publikationen zum Thema Arbeitsschutz sind zahlreich, ich hatte einige davon bereits in meiner Masterarbeit zitiert. Hollnagels Unterscheidung von Safety I und II waren mir daher bereits bekannt, die Tragweite dieses Paradigmenwechsels jedoch nicht. 

Safety II – Ein Kurzüberblick

Safety II kann als eine positivistische Version von Arbeitsschutz betrachtet werden, die Menschen nicht als Ursache für Unfälle und Vorfälle betrachtet, sondern als treibende Kraft für Arbeitssicherheit. Unfälle entstehen in Situationen mit normalen Abweichungen vom “Dienst nach Vorschrift”. In diesem Zusammenhang wird Sicherheit als die Fähigkeit verstanden, erfolgreich durch Stress und Drucksituationen zu navigieren, die in modernen und komplexen Arbeitswelten dazugehört. Die Arbeitsschutzstrategie besteht nicht darin, Verhalten in Normen und Regeln zu pressen, sondern darin, die menschliche Fähigkeit außerhalb des „Dienst nach Vorschrift“ erfolgreich und sicher zu arbeiten, anzuerkennen, zu fördern und somit für nachhaltige Resilienz zu sorgen.

Ursachenanalyse aus einem Safety-II-Blickwinkel

Folgende Gegenüberstellung zeigt, dass Safety II keinen Unterschied zwischen den Ursachen von Unfällen und sicheren Situationen macht. Beide entstehen aus denselben Gründen:

Unfälle geschehen, weil Menschen …

Alles läuft gut, weil Menschen ...

Wege finden, um mit Hindernissen und Prozessfehlern umzugehen

Wege finden, um mit Hindernissen und Prozessfehlern umzugehen

ihre Leistung den aktuellen Anforderungen und Bedingungen anpassen

ihre Leistung den aktuellen Anforderungen und Bedingungen anpassen

Verfahrensvorgaben interpretieren und situationsbedingt ändern

Verfahrensvorgaben interpretieren und situationsbedingt ändern

eingreifen, wenn etwas so aussieht, als würde es schieflaufen

eingreifen, wenn etwas so aussieht, als würde es schieflaufen

Der Safety-II-Fokus: Was läuft gut und warum?

Von 10.000 Ereignissen gehen 9.999 gut – Wenden wir uns diesen Ereignissen zu, um zu verstehen, wann und wie Sicherheit eigentlich funktioniert und umgesetzt wird. Warum sollten wir uns nur auf die Ausnahme konzentrieren, wo Sicherheit nicht gewährleistet wurde? Das wäre als würde man glückliche Ehen untersuchen, indem man nur Scheidungen betrachtet.

Tipp: Detaillierte Informationen zum Safety-II-Konzept

Wenn Sie tiefer in das Thema einsteigen wollen, empfehle ich einen Blick in das Whitepaper Neue Perspektiven für modernen Arbeitsschutz. Es geht inhaltlich weit über den von mir gebotenen Kurzüberblick hinaus und thematisiert neben Safety II noch drei weitere spannende Konzepte: Behaviour Based Safety, Psychological Safety und Safety Differently.

Eine hitzige Debatte

Die Zeit verging und ich hatte Hollnagels Absage beinahe vergessen, da holte mich das Thema wieder ein: Ein LinkedIn Beitrag von Dr. Dominic Cooper versetzte die HSE-Community in Aufruhr. Er übte harsche Kritik an Safety II und einer eng damit verbundenen Bewegung namens „Safety Differently“. Die Titelfrage seines Artikels "Was ist so anders an Safety Differently?“ sowie der rege Meinungsaustausch in den Kommentaren verbreiteten sich wie ein Lauffeuer.

"Befürworter behaupten, dass Safety Differently sich fundamental von Safety I unterscheide, da sich erstere nicht allein mit erfolgreichem Arbeitsschutz, sondern explizit damit beschäftige, die Effektivität einer ganzen Organisation zu beeinflussen, indem sie all die Dinge betrachte, die in einem Unternehmen gutlaufen, und darauf aufbaue. Dies ist in der Theorie vielleicht großartig, aber in der Praxis hat ein Unternehmen, welches 99,99 % richtig macht, immer noch sehr viel Spielraum für Fehler." - Dr. Dominic Cooper

Auf einer Podiumsdiskussion kurz darauf wurde Dr. Cooper von Ron Gant, einem leidenschaftlichen Vertreter der "Safety Differently“-Bewegung, herausgefordert. Es war zwar spannend den beiden zuzuhören, aber ich konnte nicht umhin, darüber nachzudenken, ob diese Debatte uns als Berufsgruppe bei der Verhütung von Unfällen oder Gesundheitsschäden voranbringen würde. Für mich repräsentiert das Streitgespräch zwischen Ron Gantt und Dominic Cooper, den Zwiespalt der ganzen HSE Gemeinschaft, die jetzt über dieses neue Paradigma – Safety II – diskutiert.

Das Problem mit Safety II

Eine Akzeptanz oder eine Annäherung an den Safety-II-Gedanken ist für viele HSE-Manager und Arbeitsschutzverantwortliche zunächst schwierig, denn es hat den Anschein, als wollte Hollnagel alles, was im traditionellen Arbeitsschutz bisher unternommen wurde, als falsch bezeichnen. Nicht nur die Mittel und Wege, sondern die ganze Philosophie.  Er fordert schließlich dazu auf, nicht mehr Unfallursachen zu ermitteln, also nach dem TOP-Prinzip technisches, organisatorisches oder menschliches Versagen festzustellen und diesem entgegenzusteuern. Stattdessen sollen HSE-Verantwortliche Vertrauen zwischen Management und Mitarbeitern schaffen. Anstatt zu sagen, was zu tun ist, und Schritt-für-Schritt-Anweisungen zu schreiben, sollten sie anfangen, ihren Mitarbeitern genau zuzuhören, Fragen zu stellen und das sogenannte „adaptive Verhalten“ jenseits von Regeln und Normen zu wertschätzen.  Hat man ihnen nicht jahrelang beigebracht, dass menschliches Fehlverhalten eine der Hauptursachen für Arbeitsunfälle ist? 

Erik Hollnagel selbst hat sich ausdrücklich gewünscht, dass die Unfallursachenanalyse – die so genannte "Root Cause Analyse" - als Methode völlig aus dem Arbeitsschutz verschwinden würde:

Ich würde mich freuen, wenn die 'Root Cause Analysis' verschwinden würde, aber ich bin nicht sehr optimistisch. Die Einfachheit der Methode und des Denkens dahinter ist zu attraktiv, als dass sie durch stichhaltige Argumente gegen ihren praktischen Wert überwunden werden könnte.

Erik Hollnagel, Safety Management Trend Report 2017

Ich persönlich möchte bezweifeln, dass ein Arbeitsschutzverantwortlicher, der jahrzehntelang erfolgreiche Unfallursachenanalyse betreibt, dessen HSE-Statistiken sich kontinuierlich verbessern und der auf dem Weg ist, sein Jahresziel in Bezug auf die Unfallhäufigkeitsrate zu erreichen, Lust auf einen "neuen Ansatz" hat. Warum sollte er der menschlichen Fähigkeit, sich jenseits von Regeln und Vorschriften sicher zu verhalten, vertrauen? 

Safety II in der Praxis

Auch ich sah zunächst viele Gründe, besser beim traditionellen Arbeitsschutz-Ansatz zu bleiben. Als ich noch bei einer Versicherungsgesellschaft arbeitete, waren negative Kennzahlen der Vergangenheit (konkret: die Unfallgeschichte der letzten fünf Jahre) die Basis für Vorhersagen des Arbeitsschutzes der Zukunft: So konnten wir immer einen sinnvollen Preis für Versicherungsprämien ermitteln. Dementsprechend skeptisch stand ich Safety II gegenüber. Erst als mir klar wurde, dass Safety II eigentlich gar nicht die Absicht hat, Safety I zu ersetzen, wurde es viel attraktiver. Es ist nicht so, dass Safety II als Nachfolger von Safety I gedacht wäre. Die beiden Konzepte sind in vielerlei Hinsicht komplementär, weswegen es übrigens ganz bewusst "I" und "II" und nicht "1 und 2“ heißt.

"Safety II war nie als Ersatz für Safety I vorgesehen. Ganz im Gegenteil: Safety II ist keine neue Disziplin und auch keine neue Praktik, sondern eher eine neue Perspektive auf das, was geschieht und warum es geschieht. Diese neue Perspektive eröffnet neue Wege, um auf Ereignisse zu blicken und darauf, wie sie analysiert und die Resultate interpretiert werden können." - Erik Hollnagel, 2012

  • Bei genauer Betrachtung wird klar, dass Safety II und traditioneller Arbeitsschutz in vielerlei Hinsicht komplementär sind. | © iStock: Tassii

Angesichts der hitzigen Debatte um das Thema Safety II und nach der Mail von Erik Hollnagel, kam ich zu dem Schluss, dass der Streit, ob traditionelle oder moderne Ansätze recht haben, wenig zielführend ist und wir besser einen Weg finden sollten, die besten Teile der alten und neuen Wege miteinander zu verbinden. Der Erfolg der Zukunft– ob im Arbeitsschutz oder anderswo - wird nicht durch Mikromanagement, Bürokratie oder Sanktionen erreicht.  

Doch auch mit meiner wachsenden Begeisterung für Safety II, war mir nicht klar: Wenn 1 von 10.000 Ereignissen schief gehen, wie kann der betriebliche Arbeitsschutz die Ressourcen aufbringen, um die restlichen 9.999 Ereignisse zu untersuchen und von ihnen zu lernen, wenn es bereits mehr als genug Arbeit mit den negativen Ereignissen gibt? 

Diese Frage hat mich nicht losgelassen und ich habe sie zur Diskussion in mein Team gebracht. Wir überlegten gemeinsam, ob es möglich sei, eine Software zu entwickeln, die Safety II praxistauglich macht. Quentic war bis dato eine HSE-Software, die sich 13 Jahre lang darauf spezialisiert hatte, sämtliche Aspekte des traditionellen Arbeitsschutzes, also Safety I, abzubilden. Nun beschlossen wir, einen Kernteil unserer Software anzupassen. Das Grundgerüst konnten wir beibehalten und optimieren, glücklicherweise ist Safety II ja „nur“ eine Ergänzung von Safety I. Das Ergebnis ist ein neues Modul „Ereignisse & Beobachtungen“, das es Unternehmen ermöglicht, spezifische eigene Definitionen ihrer Arbeitsschutz-KPIs festzulegen. Dadurch lassen sich traditionelle KPIs (Unfallhäufigkeitsrate, unfallfreie Tage, Auditbewertungen, etc.) sinnvoll ergänzen, z. B. durch Beobachtungen von adaptivem Handeln und Dingen, die gut laufen. Die unterschiedlichen KPI-Typen für Safety I und II kann man vergleichen und ins Verhältnis zueinander setzen. Außerdem haben wir die Möglichkeiten integriert, Untersuchungen noch nicht entstandener Unfälle (Pre-Accident-Investigations) durchzuführen. Das ist nur ein Anfang und ich bin mir bewusst, dass der größte Wert von HSE-Software nach wie vor darin liegt, Safety I so effektiv wie möglich zu gestalten, d.h. die wichtigen, traditionellen Arbeitsschutzprozesse z.B. durch Automatisierungen im Incident Management oder bei der Aktualisierung von Rechtsregistern und Sicherheitsdatenblättern zu erleichtern.  

Paradigmenwechsel: Safety II ergänzt Safety I

Nach zahllosen Diskussionen mit HSE-Fachleuten und Führungskräften über Safety II und andere Ansätze kann ich sagen, dass Safety II für solche Unternehmen attraktiver ist, die bereits gute Ergebnisse im Bereich Arbeitssicherheit erzielen, etwa bei den traditionellen KPIs. Es ist üblich, dass traditionelle Sicherheits-KPIs wie die Unfallhäufigkeitsrate (pro Million Stunden) zumindest für eine Weile bei einem Wert unter 5 stagnieren. Um auf dieses Niveau zu kommen, ist bereits ein enormer Arbeits- und Investitionsaufwand erforderlich, der gewöhnlich mit traditionellen Ansätzen bewältigt wird.

"... der Fortschritt auf dem Gebiet der Arbeitssicherheit hat in vielen Branchen ein Plateau erreicht. Es scheint, dass mehr vom Gleichen zu tun, uns einfach mehr vom Gleichen bringen wird - nicht etwas anderes. Dem zunehmend globalen Trend zu folgen und ihn anzunehmen, 'Sicherheit anders zu machen', wird den Industrien helfen, diese Asymptote zu durchbrechen. Indem sie ihre Mitarbeiter als ihre Ressource betrachten, die es zu nutzen gilt, indem sie nicht länger darauf bedacht sind, die geringste Anzahl negativer Ereignisse zu erreichen, und indem sie Sicherheit wieder als ethische Verantwortung für die Menschen und nicht als bürokratische Rechenschaftspflicht gegenüber den Menschen begreifen." - Sidney Dekker, 2017

Übrigens ist Erik Hollnagel mit der Veröffentlichung seiner E-Mail zum Safety Management Trend Report ausdrücklich einverstanden. Ihm hat die Idee sehr zugesagt, seine Safety-II-Idee, sowie die Debatte darum über das Medium Blogartikel weiterzudenken. Er ermöglicht der Arbeitsschutz-Community damit in Bezug auf Safety II das, was ihm selbst am Herzen liegt: Eine ergänzende Meinung, einen zweiten Blickwinkel. Danke. 

Proaktive Sicherheitskultur

Was geschieht, wenn Sie Ihre Unfallquote mit alt-bewährten Methoden nicht weiter senken können? Immer mehr Experten weisen darauf hin, dass traditionelle Konzepte von Arbeitssicherheit zu kurz gegriffen sind und herkömmliche Methoden nicht ausreichen, um ein nachhaltig sicheres Umfeld für Mitarbeiter zu schaffen. Neue Ansätze zeigen, wie Sie Mitarbeiter einbinden und eine proaktive Sicherheitskultur erreichen:

  • Behavior Based Safety

  • Psychological Safety

  • Safety II und Safety Differently

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Weitere Meinungen und Blickwinkel auf Safety II

Steigen Sie ein in die Debatte! Ich habe Ihnen einige spannende Artikel zusammengestellt. Da es sich um eine internationale Diskussion handelt, sind sämtliche Quellen in englischer Sprache:

Timo Kronlöf
Product Manager & Managing Director Quentic Finnland Oy

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